Mein letztes Jahr als Kind in Chile verbrachte ich zusammen mit meiner Mutter, meiner großen Schwester und meinem kleinen Bruder bei den Eltern meiner Mutter in der Straße Bulnes 367 in Concepción. Den exakten Zeitraum weiß ich nicht. Mein Vater war im November 1974 bereits nach Deutschland übergesiedelt, wir vier folgten im Februar 1976. Genau für diesen Zeitraum zogen wir ins Haus meiner Großeltern. Ich kann mich nicht an einen Umzug erinnern, obwohl ich sehr viele Erinnerungen an die Zeit mit unserem Vater habe. Damals wohnten wir zu fünft in einem kleinen Reihenhaus in San Pedro de la Paz, einer kleinen Stadt auf der anderen Flussseite von Concepción aus gesehen.

Meine Schwester Mai und ich besuchten die Deutsche Schule in Concepción, wobei sie in der zweiten Klasse war während ich noch die Vorschule besuchte. Mein kleiner Bruder Stefan, den jeder Mota nannte und nennt, war, solange unser Vater in Chile war, in der Kinderbetreuung des Krankenhauses, in dem mein Vater arbeitete untergebracht. So ungefähr sah unser Leben aus im unruhigen Chile der Jahre 1973/74. Jahre, die auch für meine frühesten Erinnerungen stehen.

Unser Vater verließ uns aus beruflichen Gründen, wie weiter oben bereits erwähnt, im November 1974 Richtung Deutschland. Ich kann mich gut daran erinnern ihn an den Regionalflughafen gebracht zu haben. Nachdem er eingecheckt hatte, über das Rollfeld in die Maschine gestiegen war, konnte ich ihn schließlich nicht mehr sehen. Durch die Entfernung, in der wir zum Flugzeug standen, konnte man die Passagiere durch die kleinen Fenster nicht erkennen. Irgendjemand winkte mit einem weißen Tuch den Daheimgebliebenen zu. Ich war mir sicher es wäre mein Vater.... Das Flugzeug hob ab und mein Vater verschwand fast komplett für die nächsten 15 Monate aus meinem Leben. Mit meinen fünf Jahren hatte ich damals keine Vorstellung wann ich ihn wiedersehen würde. Die mögliche Dauer unseres anstehenden Europaaufenthalts kam in meinen Gedanken ebenfalls nicht vor.

Der Sommer ging vorüber und ich lebte mich gut ein im Haus meiner Großeltern. Auch zu den Eltern meines Vaters bestand ein sehr herzlicher Kontakt. Manchmal holten sie mich und meine Schwester an den Wochenenden ab und wir blieben über Nacht bei ihnen. Beide Großväter bereiteten uns auf ihre Art und Weise auf den Deutschlandflug vor. Während Opa César uns häufig von den „Maisköpfen“ erzählte, seiner Meinung nach waren alle deutschen Kinder blond wie Maiskörner, warnte uns Opa Adhiro davor, dass wir ihn später nicht mehr verstehen würden, weil wir unsere spanische Muttersprache verlernen werden. Dabei redete er spanisch wie ein „Gringo“, um uns eine kleine Kostprobe unseres zukünftigen Akzents zu geben.

So kam er also immer näher, unser Abflugtag. Die meisten (vermutlich alle) internationalen Flüge gingen damals von Santiago aus. Das hieß, dass wir zunächst dorthin mussten,um das Flugzeug zu nehmen. Die Familie meiner Mutter, außer meinem Opa, wollte uns hinbringen. Die einzige Möglichkeit war mit dem Zug, das erste Mal in meinem Leben. Die Fahrt dauerte ungefähr acht Stunden, ich weiß nicht mehr, ob wir tagsüber oder nachts gefahren sind. Unsere Tante Paulina, die ebenfalls dabei war, hatte uns vorher schon vor der unerträglichen Hitze der Hauptstadt im Sommermonat Februar gewarnt. Umso enttäuschter war ich, als wir ankamen und es in Strömen regnete. Ein Bild, das ich aus meiner Heimatstadt sehr gut kannte. Das sollte Santiago sein? Dass die Fahrt dorthin an sich etwas besonderes war, das konnte ich schon spüren. So war und ist das eben, wenn man aus der Provinz in die einzige Metropole des Landes kommt.

Wir gingen in ein Hotel im Zentrum Santiagos. Den Anlass in der Hauptstadt zu sein nutzten wir aus, so dass wir auch noch Verwandte besuchten, die meine Mutter wohl schon länger nicht mehr gesehen hatte. Ich vermute wir blieben dort wenige Nächte bevor der Flug in eine unbekannte Welt startete. Wahrscheinlich haben alle auf unsere arme Mutter eingeredet wie sie was am besten machen solle. Mein Opa hatte noch in Concepción drei Hundeleinen für uns Kinder anfertigen lassen. Diese sollte unsere Mutter uns anbinden, um uns im chaotischen Wirrwarr europäischer Großflughäfen nicht zu verlieren. Die Leinen sah ich erst in Heidelberg wieder. Der Tag war da! Hitze, Sonne, Nerven! Ich erinnere mich lediglich an die zwei ersten Begriffe des vorigen Satzes. Meine Schwester packte ihre Puppe, meine Mutter Mota und ich meinen Stoff-Esel als wir auf dem Flughafenparkplatz ankamen und aus den Autos stiegen. Wenn ich heute das Foto betrachte, das unmittelbar bevor wir das Flugzeug betraten gemacht wurde, dann meine ich eine gewisse Unsicherheit oder Skepsis in meinem Gesicht feststellen zu können. Also ganz ohne Nerven ging es bei mir wohl auch nicht, ganz zu schweigen von meiner Mutter. Adios Patria!

Der Flug mit Sabena ging über Dakar im Senegal, wo ich zum ersten Mal eine Schwarzafrikanerin, zumal in landestypischer Tracht, sah, nach Brüssel, wo wir in eine Lufthansamaschine nach Frankfurt umstiegen. Hinterher erzählte mir meine Mutter ich hätte an Bord viel geweint, dass sich die Mitreisende nach mir erkundigten, was mir fehle, was ich habe, usw. Eine freundliche Stewardess gab mir und der Mai Malbücher, um uns ruhig zustellen. Zwischen Brüssel und Frankfurt flogen wir durch Wolken. Wie für die meisten Kinder in dem Alter stellten wir uns vor wir flögen durch Watte. So berührten wir zwischen Wolken und Watte zum zweiten Mal europäischen Boden binnen weniger Stunden. Wir waren da, wir waren noch nicht ganz in unserem neuen Zuhause, aber eigentlich schon da. Endlich raus aus dem Flieger. Das war der Moment, für den eigentlich die Hundeleinen vorgesehen waren: das Gewusel von Frankfurt! Wie bereits erwähnt benutzte meine Mutter die besagten Leinen nicht. Irgendwie folgten wir gemeinsam mit unserer Mutter dem Menschenstrom, irgendwie kamen wir in eine Halle, irgendwie stand unser Vater auf einmal vor uns. Nach all den Monaten, in denen ich ein bisschen sein Gesicht vergessen hatte, stand er da: dünn, längliche Haare und grüßte und strahlte, genau wie meine Mutter. Fast alle strahlten, fast alle umarmten sich. Ich war sehr glücklich. Mota war in seine Gefühlen etwas verwirrt. Er hatte seinen Vater in den Monaten komplett vergessen. Das mag auch nicht weiter verwundern, schließlich zählte er gerade zwei Jahre als unser Vater nach Europa aufbrach.

Nach 15-monatiger Trennung konnten oder wollten sich unsere Eltern nicht gleich wieder trennen, auch nicht für die anstehende Kofferabholung. Daher tarnte sich unser Vater als Passagier, um uns zur Gepäckausgabe begleiten zu können, zu der nur Reisende Zutritt hatten. Ich war etwas nervös, weil ich fürchtete, dass er entdeckt werden würde. Aber die Sicherheitsvorkehrungen der 70er Frankfurt waren wohl kaum vergleichbar mit den heutigen. Die nächste Überraschung war das Auto meines Vaters. Sein Vater hatte mir in Chile schon von dem R4 erzählt. So wusste ich, dass die Gangschaltung nicht unten im Fußbereich zu finden war, sondern an den Armaturen. Das Kennzeichen war HD-A 129, die Farbe weinrot. Die Koffer lud mein Vater auf den Dachgepäckträger, anscheinend ohne sie zu befestigen, bzw. nur recht unzureichend. Irgendwo auf der A5 in Richtung Heidelberg hob einer der Koffer ab und landete hinter uns auf dem Asphalt. Glücklicherweise wurde kein weiteres Kfz davon getroffen. Derweil starrte Mota unseren Vater durchgehend durch den Rückspiegel an, er konnte sich das Ganze noch nicht erklären. Wer war dieser Mann?

Die Reise kam langsam ihrem Ende entgegen. Wir waren endlich in Heidelberg angekommen. Mein Vater hatte eine kleine Wohnung im achten Stock eines Hochhauses in der Berliner Straße 40 für uns gemietet. Ich würde ab jetzt jeden Tag mit einem Aufzug fahren können! So viel Luxus schien Mai und mich schwer zu beeindrucken, denn in der Wohnung stießen wir auf einen Staubsauger, mit dem wir sofort wilde Verfolgungsrennen starteten. Meine Eltern hatten sich viel zu erzählen, wir Kinder spielten an diesem kalten Wintertag glücklich in unserer neuen Wohnung. Der Tag war noch nicht zu Ende, als die alte Dame des sechsten Stockwerks bei uns klingelte. Sie war gekommen, um sich über den Höllenlärm zu beschweren. Wir mussten sofort den Staubsauger ausschalten. So ging der erste Tag zu Ende, wir waren endlich wieder zusammen. Willkommen in Deutschland.

Christian Klapp (2007)